Sicherheitsaufsicht im Schienengüterverkehr
Auszug aus dem AVV-Newsletter des Schweizer Beratungsbüros BahnVerstand - Ausgabe vom 10. März 2025.
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Die Kontroverse zwischen dem Allgemeinen Vertrag über die Verwendung von Güterwagen (AVV) und der EU-Verordnung über die Instandhaltung von Fahrzeugen hat die Ursache in der vielschichtigen Umsetzung der Bahnreform im Bereich der Sicherheitsaufsicht. Sie kann mit einem gemeinsamen Vorgehen überwunden werden.
Das Ganze begann mit hehren Absichten. Mit der Öffnung der Bahnnetze Mitte der 1990er Jahre sollte die Wettbewerbsfähigkeit des Schienenverkehrs gestärkt werden. Der Zugang zum Schienennetz war durch nationale Vorschriften eingeschränkt. Fahrzeuge oder Anlagenteile wurden in jedem Land nach unterschiedlichen Kriterien zugelassen. Die Staatsbahnen beherrschten den Bahnmarkt. Sie hatten die ungeteilte Verantwortung für das Bahnnetz und den Bahnbetrieb. Über Einstellverträge übernahmen sie die Instandhaltung der privaten Güterwagen und ein Wagenmeister kontrollierte den Zug vor der Abfahrt. Es bestand ein durchgängiges Sicherheitsmanagementsystem (auch wenn der Begriff noch nicht existierte).
Mit der Bahnreform wurde die Verantwortung aufgeteilt. Für das Bahnnetz ist der Infrastrukturbetreiber verantwortlich, für den Bahnbetrieb das Eisenbahnverkehrsunternehmen. Der Fahrzeugunterhalt kann an Instandhaltungsunternehmen (Entity of Charge in Maintenance, ECM) übertragen werden.
Neue Instrumente in der Sicherheitsaufsicht
Parallel zur Marktöffnung hat die Europäische Kommission die Sicherheitsaufsicht neugestaltet. Ab 1985 wurde der ‘New Approach’ eingeführt. Sicherheitsrelevante Produkte durchlaufen ein strukturiertes Verfahren, damit sie die Zulassung erhalten:
Technische Vorschriften: einheitliche, europaweite Anforderungen an Produkte
Bennante Stellen (Konformitätsbewertungsstelle): Notifizierungsverfahren für Produkte mit hohem Gefährdungspotential
Akkreditierungsstelle: Prüfung und Überwachung der Benannten Stellen
Konformitätsbewertungsverfahren: Beurteilung eines sicherheitsrelevanten Produkts (Konformitätserklärung)
Marktüberwachungsstelle: Stichproben, ob nur Produkte mit gültiger Konformitätserklärung im Umlauf sind
Für die Eisenbahnverkehrsunternehmen wurden mit der Netzzugangsbewilligung und der Sicherheitsbescheinigung neue Instrumente der Sicherheitsaufsicht eingeführt: Seit 2019 sind die Verfahren zwischen der Schweiz und der europäischen Union anerkannt und gleichwertig:
Netzzugangsbewilligung: finanzielle Leistungsfähigkeit, genügender Versicherungsschutz, Zuverlässigkeit, der für die Geschäftsführung verantwortlichen Personen, Einhaltung der arbeitsrechtlichen Vorschriften
Sicherheitsbescheinigung: Sicherheitsmanagementsystem, Risikomanagement
Die Eisenbahnunternehmen sind verpflichtet, ein Sicherheitsmanagementsystem (SMS) umzusetzen mit definierte Sicherheitszielen und einer zweckmässigen Ablauforganisation. Die Mitarbeitenden müssen ausgebildet und die sicherheitsrelevanten Normen eingehalten werden, was durch interne Kontrollen zu überprüfen ist.
Langwierige Umsetzung
Die Umsetzung der neuen Sicherheitsphilosophie traf auf mehrere Schwierigkeiten. Zum einen reicht die Homologierung einzelner Produkte nicht aus, um die Sicherheit des Bahnbetriebs zu gewährleisten. Bei einer aufgeteilten Verantwortung muss das Zusammenspiel der sicherheitsrelevanten Elemente gleichwohl geprüft werden. Dies erfolgt über die Zulassung von sicherheitsrelevanten Einrichtungen oder die Betriebsbewilligungen von Neubaustrecken. Die vielschichtigen Anpassungen überforderten teils die Akteure und es dauerte einige Zeit, bis die neuen Instrumente genügend präzisiert und verstanden wurden.
Die zweite Schwierigkeit ist, dass bestehende Organisationen durch neue ergänzt wurden. Seit 1893 übernimmt die Zwischenstaatliche Organisation für den internationalen Eisenbahnverkehr (OTIF)Aufgaben zur Erleichterung des internationalen Eisenbahnverkehrs, indem sie Vorschriften zur Interoperabilität, der Beförderung gefährlicher Güter und dem Eisenbahnvertragsrecht erlässt. Dazu gehören technische Vorschriften und das Verfahren für die Zulassung von Rollmaterial. Der AVV als multilateraler Vertrag beruht auf diesen internationalen Konventionen (COTIF). Er konkretisiert die Rechte und Pflichten der Wagenhalter und der Eisenbahnverkehrsunternehmen bei der Verwendung von Eisenbahngüterwagen. Vor dem Beitritt der Europäischen Union zur OTIF im Jahr 2011 gab es Kompetenzstreitigkeiten mit der European Union Agency for Railways (ERA), welche ab 2006 die technischen Vorschriften und Zulassungsbedingungen für die EU-Staaten definierte.
Erschwert wurde die Situation, da die EU die Technischen Spezifikationen für die Interoperabilität (TSI) nur schrittweise festlegte und laufend modifizierte. Die Vorgaben betreffen Teilsysteme wie Infrastruktur, Energie, Zugsicherung, Betriebsführung oder Instandhaltung. Nationale Ausnahmen können in Form von ‘Notifizierten Nationalen Technischen Vorschriften’ (NNTV) der Europäischen Union zur Prüfung angemeldet werden. Die unstabile Situation verschärfte die Unsicherheit und die Skepsis gegenüber der neuen Ordnung. Es ist nachvollziehbar das bestehende und funktionierende Vorgaben nicht ohne weiteres angepasst oder aufgehoben werden.
Sicherheit durch Aufsicht und Vertrauen
In diesem Umfeld nimmt das Bundesamt für Verkehr (BAV) die Aufgabe als Aufsichtsbehörde wahr. Die Aufsicht wird risiko- und stichprobenorientiert ausgeführt. Das BAV erlässt Sicherheitsvorschriften, prüft die Einhaltung über Zulassungs- oder Bewilligungsverfahren und führt Betriebskontrollen durch. Das BAV ist befugt, Beschlüsse und Anordnungen von Eisenbahnunternehmen aufzuheben oder ihre Durchführung zu verhindern, wenn sie Vorschriften verletzen.
Wichtig ist eine Kultur des gegenseitigen Vertrauens und des wechselseitigen Lernens. Die Bedeutung der Sicherheitskultur ist auf europäischer Ebene anerkannt. Die Europäische Union verpflichtet die Eisenbahnunternehmen, mit dem Sicherheitsmanagementsystem eine positive Sicherheitskultur zu gestalten.
Das hohe Sicherheitsniveau im Schienenverkehr ist einer der Erfolgsfaktoren der Bahn und wird von allen Marktakteuren mitgetragen. Das BAV unterstützt als Sicherheitsaufsichtsbehörde die Unternehmen bei dieser Aufgabe.
AVV als Chance für einen gemeinsamen Weg
Dabei führt kein Weg daran vorbei, dass die AVV an die EU-Gesetzgebung angepasst wird in Übereinstimmung mit den in der ECM-Verordnung festgelegten Rollen und Verantwortlichkeiten. Die Bahnreform hat nicht nur neue Chancen für Marktteilnehmer im Bahnmarkt geschaffen. Sie hat auch die Risiken und die Verantwortung neu verteilt.
Seit der Inkraftsetzung des AVV haben sich die rechtlichen Rahmenbedingungen weiterentwickelt. Verschiedene AVV-Vorgaben gehen deutlich weniger weit als die Vorgaben zur Wartung von Güterwagen im EU-Recht. Einige AVV-Vorgaben sorgen für Unklarheiten bei der Aufteilung der Sicherheitsverantwortung zwischen Eisenbahnverkehrsunternehmen, Wagenhaltern und Instandhaltungsstellen. Dies betrifft Kontrollen vor der Inbetriebnahme neuer Fahrzeuge und vor der Abfahrt der Züge oder die Behandlung von Schäden, die während der Fahrt auftauchen. Das kann dazu führen, dass Mängel nicht oder zu spät behoben werden. In einem Schreiben an die ERA hat das BAV deshalb gefordert, dass die rechtlichen Vorgaben zur Wartung von Güterwagen in Europa konsequent umgesetzt werden.
Die Sicherheit im Schienenverkehr kann jedoch nicht von oben herab verordnet werden, sondern muss von der Branche mitgetragen werden umso mehr, als die Zahl der Experten bei der Bahnsicherheit überblickbar ist. Die Gestaltung des neuen Sicherheitsrahmen im Schienenverkehr beschäftigt die Branche schon zu lange und verursacht Kosten. Die Anpassung des AVV ist eine Chance, die Sicherheitskultur im Schienengüterverkehr hochzuhalten. Die Branchenvertreter können mit Vorschlägen zur Anpassung des AVV aktiv mitwirken und ihr praxisorientiertes Wissen einbringen. Das gemeinsame Ziel ist eine hohe Sicherheit im Bahnverkehr. Effiziente Lösungen können nur mit, statt gegeneinander erreicht werden.
Für weitere Infos:
BAV setzt sich für sicheren Schienengüterverkehr ein. BAV-Blog vom 23. April 2024.