Welche Verantwortung trägt der Verwaltungsrat der SBB?
Ein Artikel in der Sonntagspresse hat vor kurzem die Probleme der Doppelstockzüge der SBB aufgegriffen mit der Schlagzeile, das intern das Problem der Schüttelzüge bekannt gewesen sei.
Dass die Doppelstockzüge ein grosses Problem sind, ist nichts Neues. Aufgrund des Beschaffungsentscheids mussten die Bahnhöfe auf der West-Ost-Achse auf 400 Meter verlängert (was Milliarden kostet) und der Unterbau in Kurven verstärkt werden (was hunderte von Millionen kosten würde, aber teilweise gestoppt werden konnte). Es wird nochmals Milliarden Franken kosten, wenn die mit dem Ausbauschritt 2035 versprochenen Fahrzeiten ohne höhere Kurvengeschwindigkeiten realisiert werden sollen, was der eigentliche Zweck der Beschaffung dieser Fahrzeuge war.
Neu am Artikel ist, dass ein Dokument aus dem Jahr 2014 aufgetaucht ist, welches zeigt, dass SBB-intern die Probleme bekannt waren, dem SBB-Verwaltungsrat jedoch vorenthalten wurden. Das Fazit des Artikels: Schuld am Debakel ist der CEO, der Verwaltungsrat SBB trägt keine Schuld.
Damit stellt sich die Frage, was die Verantwortung des SBB-Verwaltungsrats ist. Gemäss Obligationenrecht ist der Verwaltungsrat das oberste Aufsichts- und Gestaltungsorgan einer Aktiengesellschaft. Er hat eine Aufsichtspflicht über die Geschäftstätigkeit, auch wenn er die operative Führung einer Geschäftsleitung übergibt. Gemäss den Organisationsreglement entscheidet er über grosse Ausgaben und dazu gehören Rollmaterial-Beschaffungen.
Bei einer Bahn ist zu beachten, dass die Verantwortlichkeiten gemäss Obligationenrecht durch die spezifische Gesetzgebung überlagert wird. In der Infrastruktur entscheidet das Parlament über alle Ausbauten. Der Betrieb und Unterhalt des Bahnnetzes wird durch eine Leistungsvereinbarung vom Bund beauftragt und alle Kosten - und damit die finanziellen Risiken – werden vom Bund getragen. Der SBB-Verwaltungsrat genehmigt zwar die Vergabe von grossen Projekten. Wenn ein Projekt zu teuer wird, dann sucht das Bundesamt für Verkehr mit der Geschäftsleitung der SBB nach Lösungen.
Im Regionalverkehr bestellen Bund und Kantone die Leistungen und bezahlen sie. Der Kauf von Rollmaterial oder der Bau von Werkstätten muss vorgängig durch die Besteller genehmigt werden. Die Entscheide des SBB-Verwaltungsrats sind vorwiegend formeller Natur. Die Zahl der Fahrzeuge und ihre Anforderungen sind vorgegeben. Viel mehr als über den Anstrich der Fahrzeuge und die Sitzpolster kann nicht entschieden werden.
Im Schienengüterverkehr könnte der VR SBB Verantwortung übernehmen. Doch wenn er es täte, würde er wohl die Einstellung des Wagenladungsverkehrs beschliessen. Deshalb liegt im Parlament eine Vorlage zum Entscheid, mit welcher über den Umfang des Schienengüterverkehrs in der Schweiz entschieden wird. In Zukunft wird SBB Cargo AG ein Angebot fahren, welches über eine Leistungsvereinbarung mit dem Bund umrissen und massgeblich finanziert wird. Im internationalen Schienengüterverkehr ist der Spielraum der SBB ebenso gering. Die Minderheitsaktionärin an der SBB Cargo International AG, die Hupac AG, ist die marktbeherrschenden Operateurin im alpenquerenden Verkehr. Sie bringt die Mengen und entscheidet, wer den Transportauftrag erhält. So wird faktisch kein Entscheid gefällt, welcher von der Minderheitsaktionärin nicht mitgetragen wird.
Gut macht es der VR SBB im Bereich der Immobilien. Dank den grossen Landreserven und der optimalen Passantenlage wäre alles andere eine Enttäuschung. Die SBB macht es fast zu gut, geht doch viel Geld in die Immobilienentwicklung, welche für die Kernaufgaben der SBB fehlt.
Es bleibt ein Gebiet, in welchem der VR SBB eine abschliessende Verantwortung trägt: Bei der Beschaffung von Rollmaterial im Fernverkehr. Er trifft die Entscheide und spricht die Kredite. Er muss sicherstellen, dass die technischen Risiken beherrschbar sind und das Rollmaterial auf die Infrastruktur abgestimmt ist. Er muss die Beschaffung überwachen und ein Risikomanagement führen.
Gerade in diesem Bereich passierte der grosse Flop mit den Dosto von Bombardier. Es wurde ein Fahrzeug beschafft, das weder technisch reif noch auf die bestehende Bahninfrastruktur passte. Die Beschaffung zog sich in die Länge, ohne dass die technischen Probleme gelöst werden konnte. Am Schluss wurde ein Fahrzeug geliefert, dass die technischen Erwartungen nicht erfüllte und teuer nachgerüstet werden muss. Der Entscheid der SBB, auf das bogenschnelle Fahren zu verzichten, macht die Planung für den nächsten Ausbauschritt in wesentlichen Teilen zur Makulatur. Bereits bei der Beschaffung von neuen Zügen für die Nord-Südachse machte der VR SBB keine glückliche Figur. Er wollte eine weitere Serie von ETR 610 kaufen. Erst nach Intervention des Bundesamtes für Verkehr wurde der Giruno von Stadler beschafft. Bei der Beschaffung des Dosto wurde dann das BAV nicht mehr gefragt.
Ein kompetenter Verwaltungsrat muss sich zu einem derart wichtigen Geschäft selber eine Meinung bilden und der Geschäftsleitung kritische Fragen stellen können. Ist es wirklich möglich, dass die Zweifel und Widerstände gegen den Kauf dieser Fahrzeuge nie bis ins oberste Gremium gedrungen sind? Dass 10 Jahre später ein Dokument auftaucht, dass belegen soll, dass der VR SBB am Debakel des Dosto keine Verantwortung trägt, erhält so einen schalen Nachgeschmack.
Bei der Steuerung der SBB aus Sicht des Eigentümers besteht Verbesserungsbedarf. Der Bundesrat begnügt sich bei seinen strategischen Zielen auf überwiegend unverbindliche Formulierungen. Zu Beginn war das noch anders. Da wurden dem Verwaltungsrat der SBB konkrete Vorgaben gemacht. Mit den ersten Eignerzielen von 2003 wurde vorgegeben, die Produktivität im Personenverkehr und bei der Infrastruktur um 3 % zu steigern, im Güterverkehr den Marktanteil um 1 % und die Produktivität um 5 % jährlich zu steigern. Mit so konkreten Zielen wird der VR SBB vom Bundesrat verschont. Einzig greifbares Ziel in den aktuellen Vorgaben ist, dass sich die SBB beim Bund nicht mit mehr als 9,8 Mia. Franken verschulden darf. Allzu viel Verantwortung will offenbar auch der Bundesrat dem Gremium nicht zumuten. Der SBB-Verwaltungsrat kann damit die im SBB-Gesetz verankerte Zielsetzung, für die Umsetzung der strategischen Ziele besorgt zu sein und dem Bundesrat jährlich Bericht zu erstatten, mit Leichtigkeit erfüllen.
Die Rolle der Eignersteuerung der SBB und die Rolle des SBB-Verwaltungsrates sind reformbedürftig. Die (eingeschränkte) Verantwortlichkeit des VR SBB sollte präzisiert werden. In den (wenigen) marktwirtschaftlichen Bereichen wäre zu erwarten, dass der VR SBB über die Kompetenz verfügt, verantwortungsvolle Entscheide zu treffen und ein kritisch-kompetenter Gesprächspartner für die Geschäftsleitung zu sein. Immerhin wurde mittlerweile ein Rollmaterial-Spezialist in das Gremium gewählt. Etwas mehr unternehmerische Offenheit bei Marktöffnungen würde dem VR SBB gut anstehen. Zu überlegen ist, ob der gesetzlich verankerte Einsitz von zwei Vertretern des Personals von grossem Nutzen ist. Mit der faktischen GAV-Pflicht der SBB haben die Personalverbände eine starke Position. Mit zwei Sitzen im Verwaltungsrat ergeben sich nur Konflikte: Entscheiden sich die von den Personalverbänden delegierten Verwaltungsräte für das Wohl des Personals oder der Unternehmung?
Als einfache und schnell wirkende Massnahme könnte der VR SBB verkleinert und die Entschädigung der bescheidenen Verantwortung angepasst werden.